Für alle, auch die tolerantesten Denker des Mittelalters und der Renaissance hatte Toleranz ihr Ende gegenüber dem Materialismus – das zeigte Stephen Greenblatt in seiner Kantorowicz-Lecture am 15.Mai 2013 anhand einer Reihe von Quellen, die eines deutlich machten: Für die meisten Kommentatoren, selbst für Autoren wie John Locke waren materialistische Ideen – das Leugnen Gottes, der Schöpfung und des Endgerichts – absolut untolerierbar. Wie aber fand dieses Wissen trotzdem seinen Weg in die Moderne? Stephen Greenblatt suchte in seinem Vortrag nach den Überlebenswegen des untolerierbaren Denkens und fand sie insbesondere in der Kunst. Seit der Wiederentdeckung von Lucrez' berühmtem Gedicht "Von der Natur der Dinge" im Jahr 1417 scheint in vielen Kunstwerken – bei Botticelli, Spenser oder Montaigne – das Interesse am antiken materialistischen Denken auf. So erhielt es eine Parallelexistenz im Ästhetischen, die half, es in die Moderne zu retten. Greenblatt vermochte in seinem Vortrag einen Bogen von den antiken Denkern bis zu aktuellen politischen Fragen zu schlagen, der die über 250 Zuhörer im Saal fesselte und der mit einer lebhaften Diskussion endete.
Stephen Greenblatt ist Professor of English and American Literature an der Harvard Universität, Cambridge, MA. Für sein Buch „The Swerve. How the World Became Modern“ wurde er mit dem National Book Prize Award und dem Pulitzer-Preis 2012 ausgezeichnet. Die Veranstaltung wurde gemeinsam mit dem Exzellenzcluster "Normative Ordnungen" durchgeführt.