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Wie christlich ist das Mittelalter?

Jan-Dirk Müller

Das Mittelalter heißt das christliche. Erst mit der Frühen Neuzeit, so die communis opinio, setze ein Säkularisierungsprozess ein, über dessen Legitimität lange Zeit gestritten wurde, an dessen Ende dem allgemeinen Verständnis nach eine in ihren heterogenen Traditionen und unterschiedlichen Möglichkeiten plurale Welt steht, den einen möglichkeitsreich und offen, den anderen zerrissen und zukunftslos. Wie stichhaltig aber ist das Bild vom christlichen Mittelalter? Unstreitig breitet sich seit der Spätantike das Christentum über ganz Nord- und Westeuropas aus, bestimmt nicht nur die religiöse, sondern auch die politisch-soziale Ordnung und durchdringt das Denken und Imaginieren der Eliten. Die seit der frühen Neuzeit typische Trennung geistlicher und profaner Sphären, die sich überdies langfristig zugunsten der letzteren verschieben, ist daher der mittelalterlichen Literatur unangemessen. Ebenso unstreitig aber enthält die mittelalterliche Welt Elemente, die sich der Christianisierung widersetzen und die u.a. in den Reformationen des Spätmittelalters als in der Tendenz ‚heidnisch‘, ‚abergläubisch‘ und unchristlich ausgeschieden werden. Solche Elemente hat Carlo Ginzburg in Vorstellungswelten der Unterschichten ausgemacht; sie finden sich allerdings auch in Selbstbildern und Weltentwürfen einer adligen Kriegergesellschaft, die schon von ihrer ursprünglichen Struktur und Ethik in Spannung zu christlichen Lebensordnungen steht. Diese besonders im Frühmittelalter greifbare Spannung versucht man in immer neuen Anläufen zu bewältigen. Eine wichtige Station ist die höfisch-ritterliche Kultur des hohen Mittelalters. Sie wird als Synthese christlicher und feudaler Traditionen gesehen. Man spricht von ‚Gradualismus‘. Der Begriff meint eine Stufenfolge der Werte einer christlichen Adelsgesellschaft, wie sie das Bild des miles christianus und die Formel ‚Gott und der Welt gefallen‘ zusammenfassen. Bei näherem Zusehen lässt diese Synthese freilich Risse erkennen, Spannungen, die von den größten Autoren reflektiert werden (Parzival, Tristan, höfische Liebeslyrik). Ein besonders zugespitzter Kasus soll am ‚Herzmaere‘ Konrads von Würzburg dargestellt werden, am Verhältnis von profanen und religiösen Zielen, von Gottesliebe und erotischer Liebe, von Sakralisierung und Blasphemie.

Mittwoch, 10.06.2015
Beginn: 18:00
Ende: 20:00
Veranstaltungsort
IG 411
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Veranstalter
Mittwochskonferenz
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