Derek Attridge
Die Herausbildung der Tiefenanalyse literarischer Texte (das sog. close reading) in Großbritannien in den 1950er Jahren ging einher mit Bemühungen um die moralische Fundierung der Kultur. Dieses Anliegen verband so unterschiedliche Kritiker wie Richard Hoggart und F. R. Leavis in ihren Analysen literarischer Texte. In diesem Vortrag wird gefragt, ob close reading in der kritischen Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Literatur überhaupt noch nützlich ist, da sie viele der früheren Annahmen über den literarischen und kulturellen Wert hinterfragt. Tom McCarthys Romane Remainder, Men in Space, C, sowie Satin Island dienen hier als Beispiele. Dem angloamerikanischen Modernismus folgend, brechen diese Werke mit den Normen des konventionellen Romans, indem sie Charaktere ohne Tiefe und Handlungsverläufe ohne narrative Spannung oder zwischenmenschliche Weiterentwicklung präsentieren und sich stattdessen auf eine Oberfläche verlassen, die von zusammenhängenden und wechselwirkenden Motiven und Anspielungen wimmelt. Gibt es eine Version des close reading, die der Singularität dieser Werke gerecht werden kann?
Derek Attridge ist emeritierter Professor für englische Literatur an der Universität von York.