Mary Helen Dupree
Seit der Aufklärung dient der aus der klassischen Rhetorik stammende Begriff „Deklamation“ (mit verwandten Wörtern in fast allen europäischen Sprachen) als allgemeine Bezeichnung für das stilisierte Lautlesen oder die Rezitation selbstverfasster oder fremder Texte: auf der Bühne, im literarischen Salon, im Gericht, in der Kirche und im universitären Hörsaal. In einer durch das Aufkommen der Schrift- und Druckkultur zutiefst geprägten Epoche diente die Deklamation dazu, die „toten Buchstaben“ der Schrift wieder lebendig zu machen, d.h. die emotionale Kraft der improvisierten Rede für das Lautlesen gedruckter oder geschriebener Texte wieder zu gewinnen. Doch wie dieser Vortrag zeigen wird, entstanden ab 1800 immer komplexere „Systeme“ der Deklamation in schriftlicher Form, nicht zuletzt durch die Vermutung der frühen Akustiker angespornt, dass das Ohr dazu fähig war, Schwingungen wahrzunehmen, die dem Auge unsichtbar blieben. So wurden nicht nur das deklamatorische Sprechen, sondern auch das (Zu)Hören Gegenstände der ästhetischen Spekulation und der wissenschaftlichen Untersuchung, wie etwa in den Vorlesungen und Schriften professioneller "Deklamatoren" wie Christian Gotthold Schocher und Gustav Anton von Seckendorff. Durch die Einführung neuer (Massen-)Medien und Kommunikationstechniken im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert entstanden neue Möglichkeiten, deklamatorisches Hör-Wissen sowohl schriftlich als auch graphisch darzustellen, einzusammeln, zu reproduzieren und massenweise zu verbreiten, wie etwa in dem von dem Pariser Arzt Arthur Chervin veröffentlichten Magazin La voix parlée et chantée (1890–1903). So erwies sich eine ursprünglich aus der Antike stammende Kulturpraxis als impulsgebend für eine neue "Wissenschaft der Stimme", die sich durch systematische Theorien und Notierungs-, später Visualisierungsversuche kennzeichnete.
Mary Helen Dupree ist Professorin für deutsche Literatur an der Georgetown University in Washington.