Erhard Schüttpelz
Die Aufgabe einer politischen und intellektuellen Dekolonisierung geschah allem Anschein nach ohne deutsche Beteiligung, weil die entsprechenden Kolonien bereits 1919 verloren waren und der Abbau der Übersee-Imperien nach 1945 andere europäische Imperien betraf. Da scheint es folgerichtig, daß die postkoloniale Theoriebildung sich heute auf einen Kanon von Texten bezieht, in dem deutschsprachige Texte prinzipiell nicht vorkommen. „German Postcolonial Theory“ wird daher auch in Zukunft vor allem ein Ausdruck in Anführungszeichen und im Konjunktiv bleiben. Aber es wird gut sein, diesen Konjunktiv möglichst weit zu treiben, um die postkolonialen Momente der deutschen Geschichte und ihre bleibenden Folgen und Beziehungen zu thematisieren: nach dem Verlust der Kolonien, nach der anti-westlichen Abwehrphilosophie, nach dem Generalplan Ost, nach der jahrhundertelangen Ostkolonisation und nach dem Verlust einer internationalen Wissenschafts- und Literatursprache, nach der Shoah, nach dem Abzug der Besatzungsmächte, nach dem Kalten Krieg, nach der hartnäckigen Weigerung und schließlichen Anerkennung, ein Einwanderungsland zu sein. Der zuerst einmal eindeutig fixierte „postkoloniale Moment“ von 1919 zerlegt sich durch diese Serie in einen Regenbogen von post-kolonialen und post-imperialistischen, aber auch von kolonialistischen und imperialistischen Momenten, die eine Anamnese erfordern würden, die nirgendwo vorausgesetzt werden kann. Der Vortrag wird sich einigen Aspekten dieser Anamnese und ihrem Konjunktiv widmen
Erhard Schüttpelz ist Professor für Medientheorie an der Universität Siegen.