In Zusammenarbeit mit dem Projekt "Schreibszene Frankfurt"
Margaret Atwood veröffentlicht eine Umdichtung von Shakespeares The Tempest (Hag Seed); Raoul Schrott überträgt Liebeslyrik aus dem Altägyptischen ins heutige Deutsch. Sind diese Texte Gegenwartsliteratur? Was sollten oder könnten sie sonst sein? Einer der aktuellen Bestseller des Hörverlags ist Gert Westphal liest Thomas Mann. Die große Höredition. Handelt es sich dabei um aktuelle Literatur, weil sie in einem digitalen Medium angeboten wird? Kein erfolgreiches Buch kann ohne Autorinnenlesung am Markt bestehen. Ist literarische Zeitgenossenschaft zu besichtigen, wenn Danielle Steele aus The Mistress liest, oder ist es der Fall, wenn Marcel Beyer seine Dankesrede für den Büchnerpreis hält? Warum sollte das eine mehr, das andere weniger zutreffen? Das deutsche Literaturarchiv Marbach verwaltet nicht nur die schriftlichen Hinterlassenschaften von toten Autorinnen und Autoren, sondern auch von noch lebenden Philologen oder Autorinnen, die in Archivkästen die Gegenwart von jetzt sicherheitshalber für die Zukunft auf Dauer stellen. Was heißt das für die zukünftige Vergangenheit? Die Gruppe 47 ist mittlerweile ordentlich kanonisiert. Sind die noch lebenden Mitglieder Autoren von Gegenwartsliteratur, oder ist diese Stelle im Literatursystem Mitgliedern jüngerer Generationen überlassen? Das IASL brachte im vergangenen Jahr einen Schwerpunkt zur Gegenwartsliteratur/forschung heraus. Während diese einerseits im Editorial als etablierter Gegenstand genannt wird, müssen andererseits noch immer die Stimmen genannt werden, die einen ganzen Forschungszweig als nicht satisfaktionsfähig bezeichnen. Warum ist der Begriff der Gegenwart in der Literatur/wissenschaft eher Problem als ein zeitlicher Index, während die Geschichtswissenschaft das Forschungsfeld der Zeitgeschichte theoretisch und methodisch etabliert hat und die Medienwissenschaft sich mit dem (nirgends so genannten) „Gegenwartsfilm“ oder „Gegenwartsfernsehen“ nicht schwer tut?
In der Auseinandersetzung mit Gegenwart als Epoche und Gegenstand der Literaturwissenschaft stehen sich verschiedene Grundauffassungen gegenüber: Literarische Gegenwart wird einerseits als Konstrukt beschrieben, das naturgemäß nicht abschließend definiert werden kann, weil es sich unablässig selbst neu hervorbringt und in hohem Maße kontingent ist. Gegenwart in der Literatur wird andererseits als beobachtbarer, mehr oder weniger abgeschlossener Verhandlungsraum und Schauplatz von Gegenwart und Zukunft verstanden. Je nach dem, welcher Auffassung man sich anschließt, folgen entsprechend unterschiedliche Modellierungen des Verhältnisses von Literatur und Gesellschaft. Aber auch zentrale Fragen nach produktions- und rezeptionsästhetischen Aspekten, Mündlichkeit und Schriftlichkeit, nach Präsenz und Performanz, nach Marktförmigkeit und Distribution, Kanonisierung und Kritik werden durch die Frage nach der Gegenwart grundsätzlich bestimmt. Dies hat Folgen für die Ausrichtung der Literaturwissenschaft selbst: Der Begriff wird zum quasi idealen Medium der Reflexion auf die jüngere Disziplinengeschichte und die Selbstverständigung des Faches.
Das Forschungskolleg „Schreibszene Frankfurt“ beschäftigt sich mit der „Poetik, Publizistik und Performanz von Gegenwartsliteratur“ und setzt sich diesen Fragen grundsätzlich aus. In einem zweiten Workshop möchten wir uns mit der Frage auseinandersetzen, welche methodischen und systematischen Schwierigkeiten durch die Auseinandersetzung mit dem Begriff der Gegenwart produktiv gemacht werden können. Diese Veranstaltung wird in Kooperation mit dem Forschungszentrum für Historische Geisteswissenschaften an der Goethe-Universität Frankfurt am Main als dessen Jahrestagung ausgerichtet. Dadurch ergeben sich Öffnungen hin zu anderen Fächern, die sich ebenfalls durch die Auseinandersetzung mit der Gegenwart herausgefordert sehen. Dazu gehört die Geschichtswissenschaft ebenso wie die historisch arbeitenden Philologien und die Bildwissenschaft, gleichermaßen sind jedoch die Theater- und Medienwissenschaft adressiert.
Wir würden uns sehr freuen, wenn wir Sie zu einem Gespräch über die oben genannten Themen gewinnen könnten. Fragen, die uns dabei besonders interessieren, sind die folgenden:
Vortragende:
Ines Barner (Basel) | Monika Dommann (Zürich) | Robert Eaglestone (London) | Hanna Engelmeier (Frankfurt) | Innekentij Kreknin (Dortmund) | Johannes Lehmann (Bonn) | Christiane Lewe (Weimar) | Armin Nassehi (München) | Lionel Ruffel (Paris) | Christian Spies (Frankfurt) | Jan Wilm (Frankfurt)