Lothar Willms
Konfuzius und die Stoa – zwischen Ethos und Autonomie
In Kollaboration mit IZO, Klassischer Philologie und Sinologie
Gewöhnlich wird der wohl bekannteste Denker des alten Chinas, Konfuzius, mit westlichen Zeitgenossen wie Sokrates, Platon und bisweilen Aristoteles verglichen. Diese Sichtweise entspricht Karl Jaspers Konzept der Achsenzeit, die einen tiefen Umbruch im Geistesleben Eurasiens markiert habe, weil in ihr gleichzeitig die wichtigsten Begründer von Denkerschulen aufgetreten seien, welche die folgende kulturelle Entwicklung nachhaltig geprägt hätten. Dieser synchronistische Ansatz gewiss einen unbestrittenen Wert, weil er die Geistesgeschichte und ihre paradigmatischen Revolutionen im Blick hat.
Wählt man einen komparatistischen Ansatz, der rein deskriptiv Ähnlichkeiten und Unterschiede erfasst, so bieten sich die hellenistische Philosophenschule der Stoa und hier insbesondere ihr kaiserzeitlicher Vertreter Epiktet (ca. 50-125/130 n.Chr.) an, der bislang nur mit späteren westlichen Denkern verglichen wurde. In meinem Vortrag werde ich den Nachweis führen, dass die Stoa und in Sonderheit Epiktet frappante und sogar die größten Ähnlichkeiten unter den antiken Philosophen mit Meister Kong aufweisen. Eine wertvolle Kontrastfolie ist hierbei Sokrates, der nicht nur ein Vergleichspunkt bei und für Epiktet ist, sondern auch ebenfalls bemerkenswerte Ähnlichkeiten mit Konfuzius aufweist. Allen drei genannten Denkern ist gemeinsam, dass von ihnen nichts Schriftliches erhalten ist, sondern dass ihre Lehren von ihren Schülern aufgezeichnet wurden. Dieser Umstand hängt eng damit zusammen, dass sie vornehmlich Lehrer der richtigen Lebensführung waren. In diesem ethischen Bereich ergeben sich nun die engsten Gemeinsamkeiten zwischen Epiktet und Konfuzius. Während es Sokrates um Tugend und, wohl überwiegend der Sicht seines Schülers Platon geschuldet, die Seele und ihre Unsterblichkeit ging, steht bei Konfuzius und Epiktet die richtige Verfassung des Innenlebens im Vordergrund, bei welcher die Integrität eine wichtige Rolle spielt, die vielfach eine soziale Relevanz hat. Dieser Eindruck ergibt sich bei einem Blick auf die fünf konfuzianischen Haupttugenden (rén ‚Wohlwollen‘, yì ‚Rechtschaffenheit‘, lĭ ‚Anstand‘, zhì ‚Weisheit‘, xìn ‚Aufrichtigkeit‘), und auch bei Epiktet nimmt der Anstand (αἰδώς) eine größere Rolle als sonst in der Stoa ein. Beiden Denkern ist an der Einhaltung bestehender sozialer Rollen gelegen und auch die Religion nimmt in ihrer Ethik, wenn auch unter verschiedenen Vorzeichen, eine wichtige Stellung ein. Über diese Parallelen sollten allerdings auch mögliche Unterschiede nicht aus dem Blick geraten, die helfen können, die Gemeinsamkeiten, aber auch die jeweilige Eigenart besser zu verstehen. Hier bleibt zu fragen, ob Epiktets prononciertes Freiheitsverständnis und seine detaillierte, stoisch basierte Psychologie der (inneren) Freiheit, aber auch seine freiheitliche politische Ethik, die sich gegen tyrannische Anmaßungen römischer Cäsaren wendet, ein Gegenstück bei Konfuzius finden oder ein Alleinstellungsmerkmal bleiben.
Lothar Willms ist Heisenberg-Fellow an der Humboldt-Universität zu Berlin und Privatdozent an der der Universität Heidelberg